Manche Menschen glaubten, die Erde sei eine Scheibe, manche Menschen glauben an Außerirdische, und manche Menschen sind überzeugt, dass in freier Rede nur 7 % der Bedeutung aus den Worten hervorgehen.
Man möge mir diesen ironischen Einstieg verzeihen, aber in mir sträubt sich jede „rhetorische Zelle“, wenn ich sehe, wie fahrlässig die Formel von Mehrabian aus ihrem Kontext genommen und verallgemeinert wird.
Selbst professionelle Kommunikationstrainer nehmen die Worte von der Bühne und richten den Spot ausschließlich auf Mimik, Gestik und Stimme. Diese unreflektierte Adaption der Formel schadet nicht nur der Branche: Sie gefährdet die Kommunikation.
Der Mythos lebt
Kaum eine Formel bietet so viel Nährboden für Missverständnisse wie „7:38:55“. Prof. Albert Mehrabian hat in 1967 empirische Studien zur Rolle von nonverbaler Kommunikation angestellt und auf der Basis von zwei Experimenten wertvolle Erkenntnisse für die Kommunikation gewinnen können. Leider haben sehr viele Interpretationen der Öffentlichkeit nur sehr wenig mit dem zu tun, was Mehrabian ausdrücken wollte.
Tests und Ergebnisse sind schlüssig. Im ersten Experiment wurden die Teilnehmer gebeten, die Gefühle eines Sprechers über die Betonung eines einzelnen Wortes zu beurteilen. Dabei lag die Besonderheit in der Inkonsistenz von Wortbedeutung und Tonfall (z.B. brutal, positiver Ton).
In einem zweiten Experiment wurde die Bewertung eines neutralen Wortes von Photos mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken (positiv, neutral, negativ) gestützt. Insgesamt zeigte sich, dass die Probanden im Zweifel nicht auf den Wortlaut vertrauten, sondern sich eher an Körpersprache und Stimme orientierten.
Mehrabian selbst bringt die Erkenntnisse auf den Punkt:
“It is suggested, that the combined effect of simultaneous verbal, vocal and facial attitude communication is a weighted sum of their independent effects with the coefficients of 07, 38, 55.” (vgl. Mehrabian, Albert and Susan R. Ferris, 1967, „Inference of attitudes from nonverbal communication in two channels,“ Journal of Consulting Psychology S.252.)
Das ist richtig…- aber missverständlich. So wurde das Ergebnis der Studie oftmals aus dem Kontext genommen und eine allgemeingültige Regel für die zwischenmenschliche Kommunikation abgeleitet.
Wenn die Wirkung von Kommunikation wirklich zu 7 % auf dem sprachlichen Inhalt, zu 38 % auf der Stimme und zu 55 % auf der Körpersprache beruhte, sollte das bedeuten, dass mehr als die Hälfte der Botschaft durch Körpersprache und mehr als ein Drittel durch die Stimme übermittelt würde. Das hieße, allein aus Körpersprache und Stimme sollten wir 93 % einer Botschaft erfassen.
Ohne Worte…
Haben Worte also keinerlei Bedeutung? Stellen Sie sich nur einmal vor, Sie sollten Ihrem Publikum die Formel von Mehrabian erläutern.
Kämen Sie ohne Worte aus? Wieso müssen wir Fremdsprachen erlernen? Wie kommt es, dass wir leichter mit einem Blinden als mit einem Tauben kommunizieren? Wie ist es möglich, dass wir uns auch im Dunkeln unterhalten? Und: Wie konnten Telefon und Radio so spektakulären Erfolg haben? Diese trivialen Beispiele widersprechen deutlich der Allgemeingültigkeit der Formel.
Dass komplexe Zusammenhänge einzig durch Stimmmodulation und Körpersprache vermittelt werden können sollen, ist absurd. Der Körper „spricht“, die Stimme artikuliert, aber hier entsteht keine eigenständige Bedeutung, kein Sinn. Sie setzen Bewegung und Stimmung auf die Bühne, aber die Inhalte werden erst durch Worte lebendig.
Plädoyer für die Macht der Worte
Die Fehlinterpretation der Formel lädt dazu ein, Inhalte in der Redevorbereitung zu vernachlässigen. Gleichzeitig kann sie die Unsicherheit bei schüchternen Menschen schüren. Denn: Wenn das, was ich sage, nicht relevant ist, gewinnt die Performance umso mehr Bedeutung.
Hier werde ich zum „Wort-Verfechter“. Sich ohne Worte zu verstehen: Das ist eine schöne Idee, die in der Regel nicht mal unter engsten Vertrauten funktioniert. Und erst recht nicht, wenn es darum geht, komplexe Inhalte auf die Bühne zu bringen.
Die Studie basiert auf der Untersuchung einzelner Worte: Mit realer Kommunikation hat das wenig zu tun.
Mehrabian selbst betont, er habe nie beabsichtigt, dass daraus eine all-gemeine Erkenntnis für Kommunikation entsteht: „I am obviously uncomfortable about misquotes of my work. From the very beginning I have tried to give people the correct limitations of my findings.” (vgl. http://communicate.amplify.com/tag/mehrabian/)
Auf seiner Website unterstreicht Mehrabian ferner, die Formel gelte nur, wenn man über Gefühle und Meinungen spricht.
Die Relevanz für freie Rede
Meine Kritik zielt nicht auf Mehrabian, sondern auf die Interpretationen seiner Formel. In ihrem Kontext sind die Resultate wertvoll. Sie unterstreichen, dass mehrdeutige Worte unter-schiedliche, teils ungewollte Botschaften transportieren können, wenn die Worte sehr begrenzt sind (z.B. in Mails, die ohne Körpersprache und Betonung auskommen).
Sie bestätigen, dass Menschen Inkongruenz sofort erkennen. Wenn jemand versichert, er habe eine Aufgabe erledigt und dabei unseren Blicken ausweicht, wenn jemand uns sagt, dass er uns mag, uns aber nicht in die Augen schauen kann, vertrauen wir eher den nonverbalen Signalen als dem gesprochenen Wort.
Hier gewinnt die Formel Relevanz für die freie Rede: Wenn Körpersprache, Ton und Inhalt nicht übereinstimmen, geht die inhaltliche Botschaft verloren. Stimme und Körpersprache verraten, ob Sie zu dem stehen, was Sie sagen. Sie geben dem Zuhörer die Möglichkeit zu überprüfen, ob Sie kongruent sind.
Die Formel von Mehrabian unterstreicht also, wie wichtig es ist, diese drei Größen in Einklang zu bringen.
Content is king, Körpersprache und Stimme: Die Verstärker.
So findet die Formel von Mehrabian ihre Berechtigung, aber sie rüttelt nicht daran, dass Ihr Publikum Sie am liebsten beim Wort nimmt.
Nonverbale Kompetenz hat zweifelsohne einen besonderen Stellenwert, denn sie stärkt die Kraft Ihrer Überzeugung.
Aber: Körpersprache und Stimme sind nicht wichtiger als Ihre Worte! Die Stimme kann Bedeutungsnuancen transportieren, die visuelle Dimension das Verständnis erleichtern. Und doch ist und bleibt Substanz die wichtigste Stellschraube für Ihren Kommunikationserfolg. Und die liegt in Ihren Worten.
Ich bin sicher: Mehrabian würde mir zustimmen: Ohne große Worte kann man keine große Rede halten. Worte sind keine Neben-, sondern Hauptdarsteller: Sie gehören in das Zentrum der Bühne. Worte haben Gewicht – wir sollten ihnen den Respekt zollen, den sie verdienen.
Kommen Sie gut an!
Ihr René Borbonus
Über den Autor
René Borbonus zählt zu den führenden Spezialisten für professionelle Kommunikation im deutschsprachigen Raum. Als Kommunikationstrainer, Buchautor, Coach und Vortragsredner bewegt er sich bewusst an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis.
Dabei beherrscht er es wie kein Zweiter, Sachlichkeit und Begeisterung in freier Rede wie im Gespräch zusammen zu führen. Professionell geleitet er Führungskräfte, Unternehmer und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auf dem Weg zu Ihrem persönlichen Auftritt.
Sei es in seinem prominent besetzten Trainings, sei es in persönlichen Coaching mit Bundestagsabgeordneten und Vertretern aus der Wirtschaft, sei es im Zuge von Lehraufträgen und Vorträgen an renommierten Universitäten: Praxisnah und unterhaltsam vermittelt er rhetorische Fertigkeiten, die alles andere als verstaubt erscheinen. Mehr Infos unter www.rene-borbonus.de
Foto: jeanbabtisteparis
Diana says
Schöner Beitrag!
Das mit dem Inhalt/der Sprache sehe ich genauso. In der Neurolinguistischen Programmierung wird dies ja auch immer wieder behauptet. Ich habe auch mal von einer anderen Studie gehört. Sie fand in einem Call-Center statt. Dort haben sie ebenfalls herausgestellt, dass Inhalte mehr als 7% Wirkung auf uns Menschen haben.
Viele Grüße
Diana