„Sei du selbst – das ist das ideale Gesetz!“ – riet schon Anfang des 19. Jahrhunderts der deutsche Schriftsteller Hermann Hesse und warnte uns davor, dass dieser Weg nicht ganz einfach sein wird. Denn die Welt sieht uns lieber angepasst und schwach als eigensinnig und selbstbewusst. Lohnt sich also überhaupt der Aufwand, echt sein zu wollen? Und wie kann man überhaupt in der „pseudo-freien“ Welt des 21. Jahrhunderts noch man selbst sein?
Alles wird zunehmend komplexer und gerade unsere westliche Gesellschaft wird durch die Medien permanent manipuliert. Wir alle sind mittlerweile dauerhaft Reizen und Einflüssen ausgesetzt, denen man sich kaum noch entziehen kann.
In gewisser Weise leben wir in einer wie in dem Film Matrix dargestellten Scheinwelt. Suggestiv verabreichte Manipulation durch Hochglanzmagazine, Fernsehen und Internet führen zu Konformität, Angepasstheit und vor allem zu Konsumzwang.
Die einzige Möglichkeit, sich in dieser Komplexität zurechtzufinden, ist das Wissen darum, was die eigene Person wirklich ausmacht: also die eigenen Stärken, Schwächen und die ganz individuellen Möglichkeiten, die einem das Leben bietet – also Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein.
Sich von den Erwartungen anderer lösen
Statussymbole, Ruhm oder finanzieller Reichtum – was uns die Medien propagieren führt eben nicht zu Erfüllung im Leben. Zu viele reiche Promis, die trotz allem mit Depressionen, Burnouts oder Drogenproblemen zu kämpfen haben, beweisen das Gegenteil. Natürlich brauchen wir alle ausreichend finanzielle Mittel zum Leben und eine gewisse soziale Anerkennung.
Wenn wir diese Grundbedürfnisse erfüllt haben, können und müssen wir uns auf die Suche nach unserem wahren Selbst machen.
Unsere Stärken und Talente, aber auch unsere besonderen Eigenschaften und Schwächen sind dabei gute Wegweiser in Richtung mehr Authentizität. Erst wenn wir uns von dem lösen, was andere von uns erwarten, vor allem von der ständigen Suche nach Anerkennung und der Bestätigung durch andere, entdecken wir unser wahres Ich hinter der eingeimpften Fassadenidentität, hinter Anpassung und Erfolgsdruck.
Wir können nur glücklich und erfüllt im Leben sein, wenn wir aus uns selbst heraus Entscheidungen treffen können, fernab der Erwartungen von außen.
Dafür muss man zunächst einmal wissen, was für einen selbst im Leben entscheidend ist, welches Potenzial in einem verborgen liegt, welche Herzenswünsche auf ihre Erfüllung warten oder auch welche Ziele und Werte von echter Bedeutung sind.
Man darf nicht nur lernen diese persönlichen Ressourcen anzuzapfen – man muss es sogar! Denn Potenziale, die nicht umgesetzt werden, können auf Dauer sogar krank machen und zu Symptomen werden, wie folgendes Beispiel aus meiner Praxis zeigt:
Hinter Symptomen das wahre Potenzial erkennen
Eine Patientin kam mit ihrer 8 jährigen Tochter in meine Sprechstunde. Das Kind sei völlig hyperaktiv, könne nie still sitzen und würde durch sein ständiges Rumgezappel alle anderen nervös machen. Die Mutter überlegte, ob es nötig sei Medikamente verschreiben zu lassen, um ihre Tochter endlich ruhig zu bekommen.
Während die Mutter aufgeregt das Problem schilderte, hatte das kleine Mädchen mit hängendem Kopf auf einem Sessel hinten im Zimmer Platz genommen. Geistesabwesend klopfte sie mit den Fußspitzen unruhig auf den Boden.
Sie wirkte wie ein Rennpferd, welches eingepfercht in die Box auf den Startschuss wartete. Ich wandte mich an die Mutter und stellte fest: „Ihre Tochter ist also ständig in Bewegung. Ist es vielleicht möglich, dass sie mehr körperliche Bewegung braucht – vielleicht sogar viel mehr, als die anderen Kinder?“.
Die Mutter starrte mich beinahe ungläubig an.
Ich wandte mich dem Mädchen zu und fragte: „Machst Du gerne Sport?“ „Und wie!“, antwortete die Zappelsuse, „Beim Laufen bin ich immer die Schnellste!“ So fanden wir gemeinsam heraus, dass das Problem und die vermeintliche Schwäche Zappeligkeit eigentlich ein Potential war, wenn man es nur richtig nutzte.
Die beiden versprachen mir einen Wochenplan auszuarbeiten, so dass die Kleine sich jeden Tag genug bewegen konnte und dadurch automatisch ihre körperliche Energie abbauen könnte.
Aber es geschah noch mehr: Sie schaffte es ihre „überflüssige“ Energie zu kanalisieren und konzentriert einzusetzen. Ihre körperliche Energie war eigentlich ein großes Potential und aus dem zappeligen Mädchen wurde nach wenigen Monaten ein bewundertes Sportass.
Echt sein steigert die Glaubwürdigkeit
Das Erkennen des individuellen Potenzials und seine systematische Entfaltung ist nicht nur ein wesentlicher Erfolgsfaktor, sondern eben auch die Grundlage für Gesundheit und Wohlbefinden.
Wenn wir also unsere Stärken erkennen und systematisch unser Potenzial anzapfen kommen wir nicht nur mehr und mehr in unsere innere Balance, sondern wir wirken auch ganz anderes auf andere.
Oft erlebe ich es in meiner Praxis, dass sich besonders ängstliche Klienten oder Seminarteilnehmer beim ersten Kennenlernen oder im Seminar umso schneller entspannen, je offener und ehrlicher ich mich als Person zeige –mit meinen Stärken, Eigenheiten und auch mit meinen Schwächen.
„Nobody is perfekt“ gilt auch in punkto Authentizität. Zudem nimmst Du selbst Deinen ärgsten Kritikern den Wind aus den Segeln, wenn Du offen zu Deinen Ecken und Kanten stehst.
Auch klinische Studien belegen, dass die Authentizität und Glaubwürdigkeit des Therapeuten unter anderem ein entscheidendes Kriterium für die Wirksamkeit einer Therapie ist (Schiepek 2010). Je echter jemand wirkt, desto grösser ist sein Charisma und seine Überzeugungskraft auf andere steigt.
Das gilt insbesondere auch bei Führungskräften. Selbstverständlich ist es wichtig immer die Balance zwischen Authentizität und professioneller Maske zu bewahren, die im beruflichen Kontext verlangt wird.
Manche Berufsfelder geben hinsichtlich dargestellter Offenheit und Authentizität eindeutig mehr Freiheit als andere. Aber überlege doch mal, welche Facetten Deiner Persönlichkeit Du ohne Gefahr für Deinen Arbeitsplatz von Dir selbst zeigen und ehrlich in den Vordergrund stellen könntest.
Nur so können wir allmählich unsere Angst vor Ablehnung überwinden: in dem wir Tag für Tag mehr zu uns selbst stehen, unser Potenzial anzapfen und uns immer bewusster werden, welche unglaublichen Möglichkeiten das Leben für uns bereit hält.
Die Kraft unserer Sehnsüchte freisetzen
Der Unterschied zwischen Schein und Sein ist bedeutend einfach: Das Sein hat Kraft – der Schein löst sich schnell in kraftloses Nichts auf.
Dieses Gefühl des Echt-seins und das Wissen um das eigene Selbst, um die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, sind außerdem vollkommen unabhängig von außen, von Lob oder Tadel, also gänzlich unbestechlich. Es macht uns beinahe immun gegen Manipulation.
Diese Kraft des Echt-seins können wir nur erfahren, indem wir immer wieder behutsam ausprobieren, wo unsere wahren Stärken sind, wie wir unsere eigenen Grenzen erweitern können und uns immer weiter entwickeln können.
Dabei ist es eigentlich – wie im Beispiel der Zappelsuse – so viel einfacher die eigenen Talente auszuleben und seinen wahren Herzenswünschen im Leben zu folgen, als den Erwartungen der anderen gerecht werden zu wollen.
Unseren Herzenswünschen kommt bei der Suche nach Authentizität sogar eine ganz zentrale Rolle zu. Sie liefern wichtige Hinweise zum Kern unserer wahren Persönlichkeit.
Schon Johann Wolfgang von Goethe wusste, dass unsere Wünsche Vorboten der Fähigkeiten sind, die noch wie ein Schatz in uns verborgen liegen. Wir fühlen vom Grunde her immer eine Sehnsucht nach dem, was wir an Fähigkeiten schon besitzen.
Deshalb sollten wir auf unserer Suche nach Authentizität lernen, vor allem auf unsere Gefühle zu hören, auf unsere Intuition und unserer tiefsten Sehnsucht im Leben folgen. So finden wir ganz sicher zu uns selbst und wecken unsere wahre innere Kraft – unsere Authentizität.
Kleines Trainingsprogramm für mehr Authentizität
Die folgenden 10 Stichpunkte dienen als Gedankenimpulse, damit Du Dir über Dein wahres Sein, über Deine Potenziale, Ziele und Werte noch bewusster werden kannst.
Mache Dir bitte Notizen zu Deinen Antworten und Ideen.
Das so angeregte Bewusstsein und die frisch gewonnene Selbsterkenntnis sind die Grundlage dafür, immer authentischer zu werden und mutiger zu sich selbst zu stehen:
1. Mache Dir Deine besonderen Fähigkeiten, Eigenschaften und Stärken bewusst!
2. Welche echten Herzenswünsche und Ziele hast Du in Deinem Leben?
3. Unterscheide, was Dir wirklich wichtig ist und was andere von Dir erwarten.
4. Mache Dir bewusst, in welchen Bereichen Du eine professionelle Maske brauchst und wo Du Dich wirklich echt zeigen kannst.
5. Deine tiefe Sehnsucht nach etwas weist Dich auf Deine wahren Möglichkeiten hin!
6. Finde heraus, welche verborgenen Stärken hinter Deinen vermeintlichen Schwächen möglicherweise auf ihre Entdeckung warten.
7. Schaffe Ordnung in Deinem Inneren und finde Deine Balance im Leben.
8. Gehe mit Mitmenschen, Familie und Deinem Partner achtsam um, so dass diese Beziehungen Dir zusätzliche Kraft geben.
9. Setze Dein Potential im Leben sinnvoll ein, am besten zum Wohle aller Beteiligten.
10. Trainiere Achtsamkeit und gehe wertschätzend mit Dir und anderen um.
Über die Autorin
Ina Hullmann ist Diplom-Psychologin, Buchautorin und international tätiger Coach mit Praxis in der Schweiz. In Deutschland bekannt wurde sie als TV-Psychologin für den Sender HelpTV.
Neu: Meditationen von Ina Hullmann als Download oder CD.
Weitere Informationen unter www.inahullmann.com
Foto: tommerton2010
Diana says
Ein wirklich guter Beitrag! Ich finde, dass (egal in welchem Bereich) früher oder später auch sowieso raus kommt wer man wirklich ist. Meine Cousine hat zum Beispiel mal versucht, eine völlig neue Person zu werden als sie in eine neue Schulklasse eingewiesen wurde. Ich hab ihr auch schon damals mitgeteilt, dass es sehr schwer für sie sein wird, da sie sich vor allem nicht „einfach mal so“ völlig verändert kann.
Das kleine Trainingsprogramm für mehr Authentizität gefällt mir auch sehr. Besonders Punkt 5! 😉
Vieles wird auch viel einfacher, wenn man einfach man selbst bleib, denn so verläuft auch alles einheitlich und man wird so genommen wie man halt ist.
Vielen Dank :), Diana
Michael Schmidt says
Hallo Diana!
Uns gefällt das Thema auch sehr. Es macht wirklich keinen Sinn jemand anderen zu spielen, weil die wahre Persönlichkeit immer zum Vorschein kommt. Authentisch zu bleiben ist natürlich immer der bessere Weg. Da hast Du schon recht. 😉
Armin says
Prima Bericht.
„Sei du selbst!“ klingt ja eigentlich soo einfach! Aber wer bin ich und was will ich wirklich?
Bis ich Antworten auf diese Fragen gefunden habe, musste ich erst sehr krank werden, ein Vermögen verlieren und alles loslassen. Und dabei ist es wirklich ganz einfach, herauszufinden „wer bin ich wirklich“.
Wie im Bericht beschrieben, konnte dem Kind sofort und doch ganz einfach geholfen werden, indem Frau Hullmann erfragt hat, was dem Kind denn wichtig ist – nämlich, dem Kind sein überdurchschnittlich ausgeprägte Motiv „körperliche Bewegung“ leben zu lassen. Warum hat das die eigene Mutter nicht erkannt?
Ich wünsche allen Menschen diese Klarheit zu wissen „was will ich wirklich“ und dadurch dieses unbeschreibliche Gefühl erleben zu dürfen „Ich darf sein“ welches man sich mit allem Geld der Welt nicht erkaufen kann.
Liebe Grüße
Armin
Artur says
Hallo Armin, da hast Du absolut recht. Diese Frage kann man natürlich nur schwer klären, weil sich die eigene Identität auch ständig verändert. Ich danke Dir aber, dass Du uns diese Einblicke in Deine Erfahrungen gibst und freue mich, dass Du herausfinden konntest, was Du wirklich willst…
Viele Grüße, Artur